Di., 28.04.2009 Horstmar „Die offene Wunde muss bleiben“ Von Hans Lüttmann Horstmar - Elf Namen, elf Steine, elf weiße Rosen und halbe Sätze, die Axel Boddenberg im Halse stecken bleiben. „ Auch nach so viele Jahrzehnten“, sagte er bei der gestrigen Stolpersteinverlegung für die Familie Steinweg, „stehen wir immer noch mit Schuld und Schrecken vor dem, was damals geschehen konnte. Wie war das möglich? Wie konnten Hass und Grausamkeit ein solches Ausmaß erreichen? Man hätte doch - aber der Satz bleibt mir im Halse stecken, denn ich muss mich ja selber fragen: „Was hättest du denn getan, wärest du damals dabei gewesen?“ Was Rosa Steinweg damals getan hat, muss unauslotbare Mutterliebe gewesen sein: Sie wollte ihre drei kleinsten Kinder nicht alleine lassen und fuhr mit ihnen nach Auschwitz und in den gemeinsamen Tod. Ihr Mann Louis: in den Wäldern von Riga erschossen. Lotte Steinweg: im KZ Minsk erschossen. Gre- te: von russischen Bomben getötet. Vier der neun Steinweg-Kinder überleben die Grauen der Nazi-Zeit; auch Walter, heute 83 Jahre alt und noch immer verfolgt von Albträumen und traumatischen Erinnerungen, die ihn nicht loslassen. Die Horstmarer Stolperstein-Initiative hatte ihn eingeladen, bei der Verlegung vor seinem Elternhaus dabeizusein, aber Walter Steinweg hat nicht darauf geantwortet. „Warum?“, fragt Anna-Maria Vos-senberg: „Ob seine Erinnerungen ihn hindern? Wir wissen es nicht - aber es wäre zu verstehen.“ Dann liest Dr. Reinhard Stahl aus den Erinnerungen, die ein Klassenkamerad von Walter Steinweg aufgeschrieben hat: „1934 musste die Familie Steinweg ihr Haus verlassen. Den Eltern und Kindern wurde eine erbärmliche Behausung, eher ein Viehstall als ein Wohnhaus, in der Überwasserstraße zu- gewiesen. Die Tür, durch die man das Haus betrat, war ein altes defektes Scheunentor, das am Boden so viel Freiraum ließ, dass die Ratten dort ein und aus spazieren konnten. 1936 fehlte Walter eines Tages in der Schule. Auf mein Nachfragen beim Lehrer erhielt ich die Antwort: Die Familie ist weggezogen.“ „Wie war das möglich?“, fragt Axel Boddenberg. Eine Antwort gibt er nicht, er fordert: „Diese Frage bleibt, und wir werden uns nicht eines Tages beruhigt zurücklehnen können. Leid, Gewalt, Tod - Menschen von Menschen zugefügt, müssen eine offene Wunde bleiben. Wir müssen uns das Gefühl für Schmerz und Schuld bewahren!“ Warmer Aprilregen tröpfelt auf elf Namen, elf Steine, elf weiße Rosen vor dem Haus in der Gossen- straße. Und die Menschen schweigen: für Rosa, Louis, Paula, Kurt, Walter, Grete, Liesel, Doris, Ruth, Lotte und Bilba Steinweg.