TB Tageblatt für den Kreis Steinfurt 06.03.08 08:46 Erinnerung ist Mühe und Arbeit Von Irmgard Tappe Als der Kölner Künstler gestern weitere „Stolpersteine" verlegte, kamen zahlreiche Besucher, um zusammen mit VHS-Direktor Guido Dahl einen Blick zurück zu wagen und die Erinnerung aufrecht zu erhalten.Fotos: Irmgard Tappe Ochtrup. Die Sonne blinzelt aus dem blassblauen Himmel und bringt ein wenig Wärme in den kühlen Wintertag. Ein Frösteln zieht trotzdem durch den Körper bei dem Gedanken an die jüdischen Schicksale, die an diesem Morgen ins Gedächtnis rücken. Zum Beispiel die Tragik der Familie Gottschalk, vor deren Haus an der Bültstraße 10 der Künstler Gunter Demnig am Dienstagmorgen die ersten vier Stolpersteine ins Straßenpflaster setzt. Während der Kölner Künstler Kies und Zement mischt, erzählt Volkshochschuldirektor Guido Dahl vom Hutmacher Emanuel Gottschalk, der hier mit seiner Frau Selma und seinen Kindern wohnte. Die Familie lebte von den Einkünften ihres kleinen Hutgeschäfts. Doch in der Reichskristallnacht zerstörten die Nazis die Existenz des Ehepaares. Einige ältere Anwesende nicken, als Dahl daran erinnert. Sie waren damals Kinder. Aber diese erschütternden Ereignisse haben sie nicht vergessen. Dahl berichtet weiter, dass die Eheleute Gottschalk in Kommerzienrat Anton Laurenz einen guten Freund hatten, der sie unterstützte. Selma und Emanuel Gottschalks Deportation nach Theresienstadt und anschließende Ermordung aber konnte niemand verhindern. Ihren Söhnen indes gelang die Auswanderung nach Israel. Mina Margarete Cohen-Gottschalk und ihr Mann Isaak Cohen aber fielen im Auschwitzer Konzentrationslager dem barbarischen NS-Wahnsinn zum Opfer. Die Verlegung begleitete Thomas Lischik (2.v.r.) gestern musikalisch. „Ich hatte einst ein schönes Vaterland" rezitiert Guido Dahl ein Gedicht von Heinrich Heine und interpretiert den Text. Die traurigen Akkordeonklänge, mit denen Thomas Lischik die Zeremonie untermalt, vermischen sich mit dem Motorengebrumm der vorbeifahrenden Autos. Demnig hat inzwischen die Stolpersteine in den Bürgersteig eingearbeitet. Er hat Routine darin, das ist nicht zu übersehen. „14 000 Stück habe ich bis jetzt bundesweit verlegt", sagt er später und poliert die quadratischen Messingplättchen. Gunter Demnig bei der Arbeit: Er hat inzwischen bundesweit 14 000 „Stolpersteine" verlegt. Insgesamt zwölf Steine lässt er an diesem Morgen in das Ochtruper Straßenpflaster ein. Jeder Stein steht für ein ausgelöschtes Leben. Namen und Lebensdaten des jeweiligen Opfers sind in die Messingplättchen eingraviert. So geben die Steine den Menschen ihren Namen zurück. Damit auch künftige Generationen die früheren jüdischen Bürger der Stadt Ochtrup nicht vergessen. Damit sie innehalten und nachdenken über das tragische Schicksal der Juden, die hier ihre Heimat hatten. Nachdenklich gehen die rund 40 Anwesenden weiter durch die Fußgängerzone. Mit dabei Bürgermeister Franz-Josef Melis, einige Kommunalpolitiker, Vertreter der Verwaltung. „Ich hätte erwartet, dass auch Schulklassen gekommen wären. Bei uns ist das jedenfalls üblich", wundert sich eine ehemalige Ochtruperin, die in Münster lebt. Inzwischen ist die Gruppe vor dem Haus Bahnhofstraße 19 angekommen, wo die Brüder Paul und Walter WeijI zu Hause waren, bis sie 1938 nach Enschede flüchteten. Auch sie wurden 1942/43 deportiert und in Auschwitz ermordet. Dem Ochtruper Metzger Siegmund Protje und seiner Frau Frieda widerfuhr das gleiche grausame Schicksal. Deshalb liegen vor ihrem früheren Haus an der Professor-Gärtner-Straße 44 (heute evangelisches Gemeindehaus) seit gestern ebenfalls zwei blinkende Messingsteine. Die letzte Station an diesem Morgen ist ein altes Haus an der Lautstraße 5. Heute ist es unbewohnt. Früher war es Zuhause der Familie Löwenberg. Julius, Abraham, Emma und Erika hießen sie, und alle vier wurden 1943/44 im KZ ermordet. „Lassen Sie uns gemeinsam über Steine nachdenken“, fordert Guido Dahl die Anwesenden zum Schluss dieses besinnlichen Spaziergangs durch Ochtrup auf. „Wenn wir uns dem Symbol des Steins zuneigen und das in ihm Ausgesagte verstehen wollen, beginnt die Arbeit des Aufeinanderzugehens der Menschen und ihrer Religionen, der Schwachen und der Starken, der Reichen durch das Nadelöhr zu den Armen im Geiste.“ Diesen Weg nicht zu gehen, sei gleichbedeutend mit Weglaufen auf einem Weg, der keiner ist. © Tageblatt für den Kreis Steinfurt - Alle Rechte vorbehalten 2008