MZ 07.12.2006 „Evakuierung" in den Tod Franziska Gah erinnert sich an die jüdische Familie Eichenwald aus Borghorst BORGHORST • Die Initiative Stolpersteine will Licht ins Dunkel bringen und sucht ständig Zeitzeugen, die sich an das Leben von jüdischen Familien erinnern, die einst in Steinfurt lebten und arbeiteten. Die Münsteranerin Franziska Gah kannte die Borghorster Familie Eichenwald. Es war ungefähr drei Wochen vor Weihnachten, im Jahr 1938. Franziska Gah, Tochter von Klara und Aloys Heiseler, erinnert sich. „Karl Eichenwald lag nach einem Autounfall in Münster in der Uniklinik." Der jüdische Textilkaufmann hatte so kurz vor Weihnachten dringend einige Kundenaufträge auszuliefern. Kaum jemand betrat noch das Geschäft des jüdischen Kaufmannes in Borghorst. Die Arbeit für den verbliebenen kleinen Kundenstamm sicherte ihm jedoch ein karges Auskommen. „Mein Vater hat die Auslieferungen für Karl Eichenwald erledigt, als er im Krankenhaus lag", sagt Franziska Gah. „Für einen Juden, der im Krankenhaus liegt, die Ware auszufahren - eigentlich undenkbar." Doch Aloys Heiseler sah seine Mitbürger jüdischen Glaubens anders: „Das sind Menschen, die in Not sind. Denen müssen wir helfen", habe er oft gesagt. Familie Heiseler aus Münster pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu den Eichenwalds. Mehrmals im Jahr fuhren sie nach Borghorst, „damals ein kleines Dorf". Über eine seitliche Zufahrt gelangte man auf den Hof. Eichenwalds bewohnten das ganze Haus, oben befanden sich Schlafräume und Wohnzimmer, unten Küche und Wintergarten als Verbindungsraum zum Geschäft. Darin links und rechts die Ladentheken - aber gähnende Leere: „Niemand hat sich mehr hineingetraut. Und das bereits vor 1938. Franziska Gah wurde 1925 geboren. Sie war ungefähr zwölf Jahre alt, als ihre Mutter bei Karl Eichenwald einen „ordentlichen Wintermantel für den Sonntag" in Auftrag gab: „Er war dunkel-blau und solle 48 Mark kosten." Franziska Gah kann sich gut vorstellen, woher sich ihr Vater und Karl Eichenwald kannten: „Beide fuhren ein amerikanisches Auto", erworben beim gleichen Händler in Münster: „So etwas verbindet natürlich sehr." Aufschluss über das damals geringe Automobil-Aufkommen geben die Kennzeichen: „Wir hatten das Kennzeichen ‚IX' - wie alle Fahrzeuge in Westfalen." Die Gräuel der NS-Zeit sind für die 81-jährige Franziska Gah noch heute unfassbar. „Das Ausmaß dieser Untaten, für die es keine Worte gibt für mich, haben viele nicht erkannt". Sie erinnert sich: „Ich kann aus der Schule nach Hause und sagte: ‚Mutter, die Juden werden alle im Osten umgebracht'." Darauf die Mutter entsetzt: „Um Gottes willen, sag das nicht. Wozu hat dann der Onkel Siegmund seinen Spaten mitgenommen?" Siegmund Eichenwald hatte sich auf einen Arbeitseinsatz vorbereitet. Seine „Evakuierung" endete im Jahr 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt. Franziska Gah erfuhr erst 1947 vom Tod der jüdischen Freunde. „Klaras Tod hat meine Mutter besonders getroffen. Sie war auf den Tag genau zehn Jahre älter als meine Mutter." Klara Heiseler schrieb nach Kriegsende einen Brief an den 1939 emigrierten Karl Eichenwald. „In den USA nannte er sich Charlie Wald." Eine Antwort hat sie nie erhalten. • bka Franziska Gah stiftet einen Stolperstein im Gedenken an Karl Eichenwald. Für eine finanzielle Beteiligung hat der Heimatverein Borghorst ein Sonderkonto „Stolpersteine" eingerichtet Kontonummer 5 138 008 203, Volksbank Nordmünsterland, Bankleitzahl: 40 163 720. Kontakt: Josef Bergmann, Tel. (0 25 52) 20 42. Weitere Informationen unter: » www.stolpersteine-steinfurt.de