Ich bin allein zurück Freitag, 28. Oktober 2005 | Quelle: Westfälische Nachrichten (Steinfurt) Von Gudrun Niewöhner Borghorst. Er sah hager aus. Und blass. Heinz Elsen hat das Bild noch vor Augen. Es war 1942 wahrscheinlich im Winter. Genau kann sich der heute 92-Jährige nicht mehr erinnern. Es ist lange her. Zu lange. Heinz Elsen kam von der Ostfront. Bei einem Zwischenstopp auf dem Bahnhof in Riga traf der Borghorster eine Gruppe von Juden darunter auch Salomon Hertz. Wir wollten zu einem Gutshof in Lettland. Damit die Pferde sich von den Strapazen erholen konnten, weiß der gelernte Maler: Wir saßen auf dem Bahnhof in den Waggons. Es war früh morgens. Auf einmal zogen mehrere Frauen und Männer vorbei. Sofort war dem Soldaten klar: Das können nur Juden sein, auf dem Weg zur Arbeit im Straßenbau. Ich hörte eine Stimme rufen: Ist hier jemand aus Burgsteinfurt? Heinz Elsen meldete sich obwohl ich aus Borghorst war. Vor ihm stand Frau Eichenwald. Aus Burgsteinfurt. Plötzlich kam ein Mann aus der Gruppe auf Heinz Elsen zu: Salomon Hertz. Er fragte mich, ob ich ihn kenne. Und dass er ein Geschäft habe auf der Münsterstraße. Natürlich wusste Elsen, welcher Laden der Familie Hertz gehörte. Meine Eltern haben schließlich auch dort gekauft. Erlaubt war ein Gespräch mit den Juden eigentlich nicht. Trotzdem fragte Salomon Hertz weiter: Er wollte wissen, was es Neues in Borghorst gibt. Und ob Bomben gefallen sind. Heinz Elsen erzählte ihm, was er wusste. Dann rief auch schon einer der Posten. Und der Bautrupp musste weiter. Heinz Elsen war wohl der letzte Borghorster, der Salomon Hertz lebend gesehen hat. Im Juli 1944 ist er in Riga umgekommen. Mit Salomon Hertz wurden Ende 1941 auch seine zweite Frau Sidonie und die gemeinsame Tochter Lore deportiert. Sidonie Hertz hat als einzige überlebt. Im Sommer 1945 kommt sie nach Borghorst. Sie bleibt nur knapp ein Jahr. Dann zieht sie zu den Brüdern ihres Mannes in die USA. Im Januar 1946 schreibt Sidonie Hertz einen Brief an Ottilie Windmüller, geborene Heimann, und deren Mann Fritz, die rechtzeitig ausgereist sind und zu diesem Zeitpunkt in Amerika leben: Ich bin allein zurück. Ich habe alles verloren, was mir teuer war Mann, Kind, Mutter. Ich habe auf dem ganzen europäischen Festland nicht einen Menschen mehr, der ein bisschen mit mir verwandt ist. Auch wenn es ihr schwer fällt, Sidonie Hertz berichtet Ottilie Windmüller, was geschehen ist: Am 2. November 1943 verschleppte man unseren Liebling, damals acht Jahre alt, nach Auschwitz, während Salomon und ich zur Arbeit mussten. Mit diesem Transport kam auch euer lieber Vater (Albert Heimann) fort. Das Ghetto Riga wurde an diesem Tag liquidiert. Am 28. Juli 44 nahm man bei einer Aussortierung meinen geliebten Mann und auch eure liebe Mutter (Frieda Heimann), Jenny Hertz, Herta Cohen mit Kind (Richard) mit. Und sie beschreibt der Freundin auch ihre Gefühle: Ich bin bestimmt tapfer, aber es ist so schwer, so schwer, es zu sein. Weiter steht geschrieben: Oh, diese Verbrecher, was haben sie angerichtet. Heute winseln sie, keiner will Nazi gewesen sein. Aber ich kenne meine Leute. Ich freue mich über jeden alliierten Soldaten, den ich sehe. Dann erzählt sie von ihrer Rückkehr in die alte Heimat nach Borghorst: Ich kam im Juli, ein in Lumpen gekleidetes Skelett, hier an. Da ging es mir aber schon wieder gut. Ich hatte nach unserer Befreiung elf Wochen Typhus und wurde sehr gut gepflegt. Sidonie Hertz, die später in den USA noch einmal geheiratet hat, fragt auch nach Ottis Schwestern Toni und Elsbeth, die ebenfalls frühzeitig Deutschland Richtung Amerika verlassen haben und dann bricht es wieder aus ihr heraus: Ich weiß nicht, wofür ich lebe, mir wäre doch viel wohler, wenn ich auch nicht mehr wäre. Während der Monate in Borghorst lebt Sidonie Hertz im Haus der Familie an der Münsterstraße, das sie in bester Ordnung vorgefunden hat. Sie wohnt in drei Zimmern, wie sie Ottilie und Fritz Windmüller am Ende des vierseitigen Briefes mitteilt. Anfang der 80er Jahre stirbt Sidonie Hertz in den USA.