Tageblatt für den Kreis Steinfurt“ 06.03.08 VON IRMGARD TAPPE Nachbarn, nicht Juden Ochtrup. Wohl kaum ein Geschichtsbuch dokumentiert Vergangenes so lebendig wie Menschen, die aus eigenen Erfahrungen berichten. Zu diesen Menschen zählt auch die Ochtruperin Gisela Struck. Sie hat das Leben der Juden in Ochtrup während des Nationalsozialismus erlebt. Familie Löwenberg, die 1925 an der Lautstraße 5 ein neues Haus baute, kannte sie besonders gut. „Löwenbergs waren unsere Nachbarn. Wir sind dort ein- und ausgegangen, und umgekehrt genauso“, bemerkt sie. Interessiert verfolgten die Anwesenden am Dienstagabend im voll besetzten Kaminzimmer der Villa Winkel die Erlebnisse der Zeitzeugin. Die beiden Mädchen gingen zusammen in den katholischen Kindergarten, danach in die Marienschule und am Nachmittag verabredete man sich zum Spiel. Auch Mutter Löwenbergs leckere Gemüsesuppe haftet noch in Gisela Strucks Gedächtnis. „Die gab es immer am Sabbat. Ohne Fleisch und mit geröstetem Brot.“ Gisela Struck zeigte den Besuchern Fotos von den Löwenbergs. Zur Erinnerung an die jüdische Familie von der Lautstraße ist in Ochtrup am Dienstagmorgen, wie berichtet, ein „Stolperstein“ verlegt worden. An der freundschaftlichen Beziehung ihrer Familie zu Löwenbergs habe sich nichts geändert, als die Nazis an die Macht kamen, betont Struck. Auf die Frage, ob es in der Schule NS-orientierte Lehrer gab, berichtet die Zeitzeugin: „An der Marienschule machten die Lehrer keine Unterschiede. Aber Willi Löwenberg, der mit meinem Bruder in die Lambertischule ging, wurde plötzlich auf Anordnung des Rektors in die letzte Bank gesetzt. Das war deprimierend, besonders für Willi, aber auch für die Mitschüler.“ Zu Willi Löwenberg, dem einzigen Überlebenden seiner Familie, hat Gisela Struck wieder Kontakt aufgenommen. 1990 habe sie erfahren, dass er in San Francisco (USA) lebt und dort eine Familie gegründet hat. Sein Leben lang habe der inzwischen 81-Jährige unter den traumatischen Erlebnissen im KZ Auschwitz gelitten. Er habe mit ansehen müssen, wie sie seine Mutter und seine Schwester Erika in den Ofen steckten. Trotzdem empfinde er – im Gegensatz zu seinen Kindern – keinen Groll. „Ich bin zwar zornig, hege aber keinen Hass gegen die Deutschen. Ich kann Ochtrup nicht vergessen und vermisse die Lautstraße. Ihr wart alle sehr nett zu mir und meiner Familie“, liest Gisela Struck aus einem seiner Briefe. Im Gespräch mit Volkshochschuldirektor Guido Dahl erzählte Gisela Struck von Erika Löwenberg, ihrer Freundin aus Kindertagen. Auch alte Fotos von den Löwenbergs hat sie mit in die Villa Winkel gebracht. Es entwickelte sich eine angeregte Diskussion während der Abschlussveranstaltung zur Woche der Brüderlichkeit 2008. Aus den Reihen der Besucher kam der Vorschlag, das vorhandene Wissen von Zeitzeugen zu sammeln und zu dokumentieren. © Tageblatt für den Kreis Steinfurt - Alle Rechte vorbehalten 2008