„Nur noch einmal die Sonne sehen“ 6.3.2008 o- Burgsteinfurt. „Ich glaube, dass ich öffentlich von dieser Zeit und meinen Erfahrungen sprechen kann, hat mir geholfen und das hätte auch keine psychoanalytische Therapie besser gekonnt,“ versichert Erna de Vries auf die Frage eines Schülers, wie sie denn überhaupt diese schlimmen Erlebnisse während der Nazizeit verarbeiten könne. Bis dahin hatten die vielen Schüler von den Technischen Schulen und den Wirtschaftsschulen im großen Saal des Kreishauses konzentriert dem Vortrag der Holocaust-Überlebenden zugehört. Erna de Vries erzählt von dem unsäglichen Leid, das sie ertragen musste. Erna de Vries ist in Kaiserslautern aufgewachsen. Dort gab es eine große Gemeinde, der über 700 Juden angehörten. Ihr Vater war evangelisch und ihre Mutter Jüdin, eine geborene Löwenstein aus Borghorst. Sie selbst sagte nach dem Vortrag: „Ich spreche immer von einer unbeschwerten Kindheit, aber es war wirklich so, meine Kindheit war unbeschwert.“ dazu gehörten auch Erinnerungen an die Ausflüge zur Familie Heimann nach Borghorst. In deren Garten habe sie gerne gespielt und an eine Bäckerei Badde erinnere sie sich auch. Die Eltern hatten sich entschlossen, das Kind, Erna war ihr einziges, nach dem Glauben der Mutter zu erziehen. Der Vater betrieb einen Speditionsbetrieb, starb aber schon mit 40 Jahren, sodass die Mutter mit einem Geschäftspartner alleine den Betrieb weiterführte. Bis 1935 ging auch alles weiter, wenn sie auch verstärkt Demütigungen ertragen musste, die sie gar nicht verstanden habe. Aber 1938, als Erna 15 Jahre alt ist, nimmt ihre Jugend ein jähes Ende. Nach der Plünderung des elterlichen Wohnhauses wird von der Gestapo beschlossen, dass Ernas Mutter deportiert wird. Erna will unbedingt bei ihrer Mutter bleiben. Sie habe jedoch in Kaiserslautern bleiben können, weil ihre Eltern eine so genannte Mischehe geführt hätten und sie nur Halbjüdin sei. „Diese Begriffe aus der Nazizeit habe ich immer verabscheut“, berichtet sie. Erna fährt mit in den Tod. Die beiden werden nach Auschwitz gebracht, wo die Mutter der Todesmaschinerie der Nazis nicht entkommen kann. „Nur noch einmal die Sonne sehen.“ Als die 20-jährige Erna diesen Wunsch äußert, scheint auch für sie bereits alle Hoffnung verloren, denn sie sitzt im Todesblock 25 in Auschwitz-Birkenau. Eine Nacht muss sie dort verbringen in der sicheren Gewissheit, am nächsten Morgen ermordet zu werden. Um sie herum herrscht Chaos. Frauen schreien, raufen sich die Haare, SS-Wächter prügeln und scheuchen die Häftlinge in Lastwagen. Sie fahren zum Krematorium, zum Gas, in den Tod. Wie durch ein Wunder entkommt Erna de Vries diesem unmenschlichen Schicksal: In letzter Minute wird sie aus der Menge herausgeholt und mit einem Sondertransport ins KZ Ravenbrück gebracht. Die letzten Worte ihrer Mutter, die damals erst 49 Jahre alt ist, haben sich ihr eingebrannt. „Du wirst überleben und dann erzählst du allen davon, wie es uns ergangen ist.“ Das sei ihr Auftrag, kommentierte de Vries, eine zarte, kleine Dame, die durch unsägliches Leiden gegangen ist, bis sie auf dem Marsch, den 600 Frauen in Ravensbrück antreten mussten, von den Amerikanern befreit wurde. Erst im Jahr 2000 muss sie hinnehmen, dass ihre Mutter wirklich in Auschwitz umgebracht wurde. Durch einen Historiker erfährt sie, dass ein Todesschein existiert, von dem berüchtigten KZ-Arzt Mengele unterschrieben, der den Tod durch Herzversagen bescheinigt. Manchmal, so erzählte Erna de Vries, vergesse sie, weiter von ihrer Mutter zu erzählen, weil sie auch heute immer noch nicht fassen könne, dass ihre Mutter dort ihr Leben lassen musste. VON AXEL ROLL, STEINFURT URL: http://www.westfaelische-nachrichten.de/lokales/kreis_steinfurt/steinfurt/?em_cnt=213006&em_loc=31 © Westfälische Nachrichten - Alle Rechte vorbehalten 2008