MZ, 21.06.2006 Wir sind nicht mehr verstreut Die Gumprich-Enkelinnen entkamen mit „Kindertransporten" dem NS-Terror BORGHORST • „Unsere Mutter hat uns in den Zug gesetzt. Uns beide, das Einzige, was sie noch hatte." Die wenigen Worte Hella Händlers enthalten die ganze Tragik ihrer Kindheit. Gemeinsam mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Ursula ge-langte die 16-Jährige mit ei-nem Kindertransport nach England. Das war im Sommer 1939. Mutter blieb zurück Die Mutter, Erna Simon gebo-rene Gumprich, blieb allein zurück. Sie überlebte den Holocaust nicht. Den Vater, Leopold Simon, hatten die SS-Schergen nach der Pogromnacht von der Arbeit weggeholt -und am 14. November 1938 in Buchenwald erschlagen. Für die heimat- und elternlosen Mädchen war London die Rettung, aber: „Die Leute wollten lieber jüngere Pflegekinder aufnehmen." Als die Geschwister schließlich zu Mrs. Sheppard nach Brighton vermittelt wurden, war diese sehr überrascht. „Wir muss-ten uns ein Bett teilen, die Da-me hatte kleinere Kinder erwartet." Hella Händler und Ursula Rosenfeld meisterten die Höhen und Tiefen, absolvierten ihre Ausbildung zur Krankenschwester. Kein Vergleich zu all den zuvor in Deutschland durchlittenen Schikanen. „Wir haben überlebt, das ist das Wichtigste." Und sie haben sich gegenseitig nie aus den Augen verloren. Familie Rosenfeld lebt an verschiede-nen Orten Englands. Das poli-tische Engagement brachte Familie Händler gleich 1946 zurück nach Deutschland. Al-le Nachkommen leben seither in Berlin. „Wir sind nicht mehr verstreut." Im Jahr 2000 wirkte Ursula Rosenfeld in dem Oscar-prä-miierten Dokumentarfilm „Kindertransport" als Zeitzeu-gin mit. Eine Enkelin stellte die Verbindung zur Steven Spielberg-Stiftung her. Sie selbst hatte zuvor kaum darü-ber gesprochen: „Wir hatten soviel mit uns herum zu tra-gen. Meine Kinder sollten da-von unbelastet bleiben." Preußischer Stil Wie war ihr Verhältnis zur Großmutter Bertha, die das Textilgeschäft in Borghorst führte? Hella Händler erinnert sich an deren „richtig preu-ßisch-militärischen Erzie-hungsstil". Und Ursula Rosen-feld fand es toll, in Großvater Gustavs Kutsche auf Kopf-steinpflasterwegen ins Feld zu tuckern. Sie waren manches Mal in den Sommerferien zu Gast bei den Großeltern, tra-fen Cousins und Cousinen wie Rudolf Gumprich und Elsbeth Heimann. „Bei Heimanns gab es diesen großen Garten". Die gleichaltrige Elsbeth Heimann wurde mit einem Kindertransport nach England geschickt. Im Sommer 1939. Auch Elsbeth sah ihre Eltern nie wieder. • Beate Kater Knapp sechs Wochen vor Kriegsausbruch endete die von den Nazis geduldete Aktion der britischen Regierung, die etwa 10.000 jüdischen Kindern das Leben rettete. Das nach der Pogromnacht erlassene Gesetz war an die Verpflichtung der jüdischen Gemeinden geknüpft, eine Garantiesumme von 50 Pfund für jedes Kind zu stellen. Mitnehmen durfte jedes Kind: Einen Koffer, eine Tasche, eine Fotografie, zehn Reichsmark, keine Bücher, keine Spielsachen.