Mi., 11.11.2009 Horstmar Immer in Lebensgefahr Von Jens Spickermann Horstmar - „Im Radio war eine einzige Hetze“, erzählt Erna de Vries, als sie auf die Nacht des 9. No-vembers 1938 zu sprechen kommt. Auch das Elternhaus der damals 15-Jährigen wurde von SA-Trup- pen verwüstet. „Alles, was man zerschlagen konnte, war kaputt. Sogar die Betten waren aufge- schlitzt“, erzählt sie. Am Dienstag war die Ausschwitz-Überlebende Erna de Vries auf Einladung der Initiative Stolpersteine im Borchorster Hof zu Gast und erzählte von dem unsäglichen Leid, das ihr während der NS-Zeit wi-derfahren ist. Die sprichwörtliche Stecknadel hätte man im Raum fallen hören können, wenn de Vries Redepausen einlegte. Überraschend viele Gäste waren Hof gekommen und lauschten mit bestürzten Gesichtern den Erzählungen der Rentnerin. Ruhig, detailgetreu und mit fester Stimme versuchte Erna de Vries das Unbegreifliche begreiflich zu machen. Im Jahr 1930 begann sie und gab die Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge bis zum Kriegsen- de wieder. Spätestens, als sie bei ihrer Deportation nach Auschwitz angelangt war, verstummten auch die letzen störenden Geräusche einiger Zuhörer. „Ich wusste vorher ganz genau, was Aus- schwitz war“, erzählte die 86-Jährige. Erfahren hat sie es über den britischen, auf deutsch ausge-strahlten, Radiosender BBC. „Wer etwas über Auschwitz wissen wollte, der hat auch etwas erfahren“, stellte sie klar. Zusammen mit ihrer Mutter, die den Massenmord nicht überlebt hat, kam sie ins KZ, wurde aber nicht, wie viele andere, direkt in die Gaskammern geschickt, sondern musste arbeiten. Nachdem sich ihr Gesundheitszustand durch Misshandlungen und extreme Mangelernährung ver- schlechtert hatte, wurde sie „selektiert“ und sollte ermordet werden. In letzter Minute hatte sie je-doch Glück, wurde herbei befohlen und schließlich ins KZ Ravensbrück verlegt, wo sie als Zwangsar-beiterin für Siemens arbeitete. Heinrich Himmler hatte einen Erlass herausgegeben, nach dem Kinder von Christen und Juden, wie de Vries, in der Industrie arbeiten sollten. Auch dort war sie in Gefahr. Sie überlebte schließlich auch den „Todesmarsch“, auf den die Zwangsarbeiter geschickt wurden, als die alliierten Truppen anrückten. „Einige Menschen werde ich nie vergessen“, erzählt die Rentnerin. Das sind diejenigen, die sie auf der Straße heimlich gegrüßt haben, ihrer Familie nach der Verwüs-tung des Hauses Essen gebracht oder gezeigt haben, dass sie das NS-Gedankengut nicht teilen. Das habe sie immer aufgebaut.