Dokumentation Burgsteinfurt
Familie Hermann Michel und die anderen Michelsöhne, Friedhof 14
Hermann Michel (*1877) war der älteste der Söhne des Ehepaares Michel Michel und Elise, geb. de Jong. Er wohnte mit seiner Frau Franziska, geb. Meier aus Hohenlimburg (*1877), in Burgsteinfurt, Friedhof 44 (heute 14) und verdiente seinen Lebensunterhalt als Kürschner und Fellhändler. Hermann und Franziska hatten zwei Töchter und einen Sohn: Martha (*1907), Irma (*1915) und Siegfried (*1912). Martha und Siegfried überlebten die Shoah, Martha in London, wohin sie im September 1939 ausgewandert war; ihr weiteres Schicksal ist uns z.Z. noch unbekannt. Siegfried war schon im März 1933 als Begleiter eines Milchviehtransports von Gangel (südl. von Aachen) aus nach Palästina gelangt. Angesichts der weiteren politischen Entwicklung blieb er dort und wurde später Staatsbürger Israels. Er baute 1937 am Fuß des Berges Tabor eine Plantage, auf der überwiegend Mandeln, Weintrauben und Oliven angepflanzt wurden. 1980 hat er Burgsteinfurt zum ersten Mal besucht. Ob er noch lebt, ist uns nicht bekannt.
Die letzte Nachricht von Irma stammt aus dem Jahre 1939, als sie unter dem Namen Irma Samson, geb. Michel, in Enschede gemeldet war. Da über sie kein Gedenkblatt zu existieren scheint, könnte sie die Shoah überlebt haben.
Hermann Michel und seine Frau Franziska waren bei dem letzten Transport der Juden von Burgsteinfurt, der am 27. Juli 1942 von Burgsteinfurt via Münster in das KZ Theresienstadt führte; schon im November 1942 wurde Franziska Michel dort ermordet. Hermann dagegen überlebte Theresienstadt. Zwar gesundheitlich stark beeinträchtigt kehrte er am 26. Mai 1945 nach Burgsteinfurt zurück. Dort setzte er sich im Jahre 1950 zusammen mit Alfred Wertheim (s.u. bei Ursel Wertheim), der aus Tel Aviv angereist war, für die Aufstellung des Gedenksteins am Platz der ehemaligen Synagoge in Burgsteinfurt ein. Der Stein trägt die Inschrift:
„Hier stand das Gotteshaus der jüdischen Gemeinde Burgsteinfurt. Es wurde am 9. November 1938 zerstört. Von den 28 Gemeindemitgliedern im Jahre 1941 sind nur 2 zurückgekehrt. – Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung“.
Die Angabe, dass „nur 2“ Gemeindemitglieder zurückgekehrt seien, ist insofern irreführend, als neben Hermann Michel noch Johanna Simons und deren Tochter Hannelore nach Burgsteinfurt zurückgekehrt sind, wenngleich diese erst im Jahre 1947 (s.u. bei Familie Felix Simons).
Julius (*1879) war – auch wie sein jüngster Bruder Bernhard (*1897) im Jahre 1934 und sein nächst jüngerer Bruder Sally (*1884) im Jahre 1936 – aufgrund von Meldungen nicht-jüdischer Bürger denunziert und daraufhin mit einem Gerichtsverfahren überzogen und der Vorbereitung zum Hochverrat angeklagt worden. Die Anklagen bezogen sich auf „Hören von Feindsendern“, „Beleidigung des Führers“ und „Körperverletzung eines Lehrlings“. Er überlebte die Shoah nicht. Er erhängte sich 1936 im Strafgefängnis Lingen.
Der nächstjüngere Bruder Max (*1890) heiratete Johanna Rosenthal aus Bochum und zog zu ihr ins Ruhrgebiet; aus der Ehe ist 1925 eine Tochter hervorgegangen, Erika Breslauer, geb. Michel (*1925), die die Shoah in den USA überlebt hat. Ihre Eltern dagegen wurden im Januar 1942 nach Riga deportiert und kamen nach der Auflösung der Lager in Riga nach Stutthof, wo sie ermordet wurden, Max am 13. November 1944, seine Frau anscheinend erst im Januar 1945.
Bernhard, der jüngste der Michelsöhne (*1897), hat wie sein älterer Bruder Hermann ebenfalls das KZ Theresienstadt überlebt; sein Schicksal ist in MÖLLENHOFF und SCHLAUTMANN-OVERMEYER: Jüdische Familien in Münster. 1935 – 1945. – Münster 2(2001.I) recht gut dokumentiert:
Bernhard Michel war im Oktober 1918 während eines Truppentransports von der Marne ins Elsaß unter die Räder eines Eisenbahnwaggons geraten, so dass ihm beide Beine amputiert werden mussten und er zum Prothesenträger wurde; später hatte er einen fahrbaren Rollstuhl, einen so genannten „Selbstfahrer“. In dem antisemitischen Hetzblatt „Der Stürmer“ war im Januar 1934 dazu Folgendes zu lesen (zit. In FELD 2009a, 197):
„Der jüdische Zotenreißer von Burgsteinfurt –
Der Jude Benno MICHEL aus Burgsteinfurt hatte es bei Ausbruch der Judenrevolte des Jahres 1918 so eilig aus dem Etappengebiet nach Deutschland zu kommen, daß er es ganz vergaß, daß die Eisenbahn auf Schienen läuft und Räder hat. Infolge seiner Hast, beim Revoltemachen dabei zu sein, geriet er unter die Räder. Das kostete ihm die beiden Füße. Heute fährt der Jude Benno MICHEL in seinem Wägelchen, wie man sie bei Schwergebrechlichen oft sieht, durch die Stadt. Am liebsten macht er an belebten Straßenecken halt. Da mustert er die Passanten. Und ruft vorbeigehenden jungen Mädchen dreckige Witze und Zoten zu. Der verkrüppelte Jude versucht so auf seine Weise beizutragen, die deutsche Jugend zu verderben. Er spekuliert dabei auf das Mitleid, das die Gojim mit ihm haben. Ein solcher Bursche verdient kein Mitleid. Es ist zu hoffen, daß sich bald jemand findet, der dem jüdischen Zotenreißer das freche Maul stopft.“
Vermutlich hängt mit dieser unverhohlenen Drohung zusammen, dass Bernhard im Jahre 1934 Burgsteinfurt verlassen hat. Er zog von Burgsteinfurt nach Münster und heiratete im folgenden Jahr Hilde Rosenberg (*1906) aus Freckenhorst, mit der er die Tochter Liesel (*1936) bekam. Die Familie musste ab Januar 1939 in einem Nebenraum des Münsterschen „Judenhauses“, der Marks-Haindorf-Stiftung, Am Kanonengraben 4, wohnen. Am 31. Juli 1942 wurde die Familie von dort in das KZ Theresienstadt deportiert.
Die Tochter Liesel, verh. Binzer, hat 1993 das Leben ihrer Familie im KZ Theresienstadt u.a. so beschrieben:
„[Meine Mutter] hat […] schwer gearbeitet. Ich war im Kinderheim, mein Vater war im Lazarett. Er hatte ja keine Beine und konnte nicht arbeiten. Meine Mutter hat von morgens bis abends in der Glimmer-Fabrik gearbeitet […]. Später hat sie dann in der Küche gearbeitet, hat auch mal ein paar Kartoffeln geklaut und uns alle dadurch am Leben erhalten [… Mein Vater war] ein Typ, der keine Angst kannte […]. Er hat sich immer darauf berufen, er habe im Ersten Weltkrieg gekämpft […]. Er hat die ganzen Jahre praktisch immer im Lazarett oder im Krankenhaus gelegen.“
Liesel hat ihren 6. Geburtstag auf der Isolierstation der KZ-Krankenstation erlebt. Später spielte sie in dem NS-Propaganda-Film „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ von 1945 (Regie: Kurt Gerron und Karel Peceny), der nach dem Besuch der Delegation des Internationalen Roten Kreuzes im Juli 1944 gedreht worden war, eine kleine Rolle: Sie musste vor einer Café-Kulisse ein nicht vorhandenes Eis schlecken.
Bernhard, Hilde und Liesel Michel haben das KZ Theresienstadt überlebt und sind nach dem Krieg nach Freckenhorst heimgekehrt. Liesel besuchte dort die Volksschule und später das Mädchengymnasium in Warendorf, wo sie 1957 das Abitur ablegte. Sie wurde Finanzbeamtin und heiratete den aus Berlin stammenden Hans David Binzer (*1931), mit dem sie drei Kinder bekam. Sie lebt heute in der Nähe von Frankfurt.
Mutter Hilde starb im selben Jahr wie Vater Bernhard, der am 24. November 1977 in einer Frankfurter Klinik gestorben ist. Beide wurden auf dem jüdischen Friedhof von Freckenhorst beerdigt.