Dokumentation Burgsteinfurt
Die letzten jüdischen Schüler des Gymnasiums Arnoldinum
Robert Walter Herz | Elsbeth Cohen | Hans Bernhard Löwenstein | Ursula Wertheim | Kurt Meyer
s. auch: „Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853 – 1937“
von Karl Friedrich Herhaus, Münster 2013 → PDF 2,2MB
Robert Walter Herz wohnte die ersten 10 Lebensjahre in Bochum, wo er am 16. August 1918 geboren wurde. Er besuchte dort die evangelische Volksschule. 1928 musste sein Vater die über 50 Jahre bestehende Exportfirma in Bochum aufgeben. So zog Robert im selben Jahr mit seinen Eltern (August und Lotte Herz, geb. Kappesser) nach Burgsteinfurt und besuchte hier die evangelische Volksschule bis zum Eintritt ins Gymnasium sowie den Konfirmandenunterricht von Pfarrer Walter Krämer, der ihn 1932 in der Kleinen Kirche konfirmierte. Sein Vater hatte eine jüdische Mutter, aber er selbst praktizierte den jüdischen Glauben längst nicht mehr.
Von 1929 an besuchte Robert das Gymnasium Arnoldinum in der Wasserstraße 18, wo er ab 1933 mit dem diffamierenden Spitznamen „Isidor“ gehänselt wurde. 1937 machte er das Abitur, was ihm als „Halbjude“ (so die offizielle Bezeichnung in den Schulakten) noch möglich war. Anschließend studierte er an den THs von Aachen und Berlin-Charlottenburg Ingenieurwissenschaften und legte 1940 in Berlin das Diplom ab; zum Wehrdienst war er als „Halbjude“ nicht geeignet.
Am Nachmittag des 10. November 1938 äscherten die SA und ihre Helfer die Synagoge von Burgsteinfurt ein; am Abend desselben Tages wurde das Elternhaus von Robert Herz in Hollich 149 in Brand gesteckt; anderntags wurde die Brandstätte von einer Arnoldinerklasse in Begleitung ihres Lehrers Studienrat Dr. Günther Flume geplündert. Auf Grund der von Hermann Göring erlassenen „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes“ vom 12. November 1938 wurde das Ehepaar Herz vom Burgsteinfurter Bürgermeister Dr. Schumann aufgefordert, innerhalb von vier Wochen die an dem Haus entstandenen Schäden auf eigene Kosten zu beseitigen. Daher waren sie gezwungen, ihre letzten Immobilien aus Bochum zu veräußern. Um später ihre Auswanderung finanzieren zu können, verkauften sie im Juli 1939 auch noch ihr Anwesen in Hollich 149 und fanden vorläufig eine Bleibe im Buchheimerschen Haus, Steinstraße 9.
Am 24. Oktober 1940 floh Robert Herz zusammen mit den aus Burgsteinfurt angereisten Eltern von Berlin durch die Sowjetunion nach Japan, von dort weiter über den Pazifik nach Kalifornien, durch den Panama-Kanal in den Südatlantik, um schließlich in Sao Paulo/Brasilien, ihrem Fluchtziel, zu landen. Dort benannte sich Robert Walter in Roberto um, heiratete 1943 Viktorina Emilia Mazzalo und wurde später technischer Direktor und Mitinhaber der Dampfkessel- und Apparatebau-Firma „Hercules“.
Zwischen 1979 bis in die Anfänge der 1980er Jahre korrespondierte Roberto mit Carlfried Graf von Westerholt, Haus Alst. Gegen Ende des Jahres 1979 kam er zu einem Kurzbesuch nach Haus Alst; das Angebot, Burgsteinfurt zu besuchen, lehnte er allerdings strikt ab.
Im gemeinsamen Gespräch konnte aber geklärt werden, dass Graf Westerholt mit dem in seinem in der Festschrift zum 125. Jahrestag der Wiederbegründung des Arnoldinums verfassten Aufsatz erwähnten „[…] Schüler […], der in allen großen Pausen einsam auf dem Schulhof stand […,] mit dem auch keiner sprach – er war Jude und verließ einige Zeit später die Schule“ nicht Roberto gemeint gewesen war, wie dieser angenommen hatte, sondern es hatte sich dabei vielmehr um Horst Martin Buchheimer (*1924) gehandelt, den letzten jüdischen Arnoldiner, der im Sommer 1937 das Arnoldinum verlassen musste.
Dieser war in Amsterdam untergetaucht und überlebte die Shoa. 1947 ist er nach Palästina ausgewandert; seither lebt er mit seiner Familie in Ashkelon/Israel.
Darüber hinaus verarbeitete Roberto nach eigenem Zeugnis durch die Korrespondenz und das persönliche Gespräch mit Carlfried Graf von Westerholt teilweise die Traumata, die er während seiner Schulzeit am Arnoldinum erlitten hat. Leider wurde der Briefkontakt über die 1980er Jahre hinaus nicht aufrecht erhalten.
Roberto dürfte in den 1990er Jahren in Sao Paulo gestorben sein; die näheren Umstände und das genaue Datum seines Todes konnten bislang nicht ermittelt werden.
Elsbeth Cohen (*1921) lebte bis Mitte der 1930er Jahre mit ihren Eltern (Richard und Grete Cohen, geb. Windmüller) in Burgsteinfurt, Wasserstraße 28. Ihr Vater war ein Sohn des in Burgsteinfurt hoch angesehenen Kaufmanns Moritz Cohen. Im Haushalt von Richard und Grete Cohen war Frau Elfriede Schoregge (später verheiratete Gude) als Kindermädchen angestellt. Elsbeths jüngere Schwester Margrit ist im Januar 1933 mit 9 Jahren gestorben; ihr Grab auf dem jüdischen Friedhof wurde zu Lebzeiten von Frau Gude regelmäßig gepflegt.
Elsbeth besuchte die jüdische Volksschule in Burgsteinfurt und seit 1931 das Gymnasium Arnoldinum, das sie im September 1935 aus der Obertertia verlassen musste. Sie besuchte danach ein knappes halbes Jahr die 1926 gegründete Jüdische Mädchenschule im bayrischen Wolfratshausen, wo sie sich auf die Auswanderung nach Israel vorbereiten konnte.
Ende Mai 1937 reiste sie mit ihren Eltern nach Nahariya/Israel, einem aufstrebenden Badeort in Nordwestgaliläa, aus. Dort ließen die Eltern ein Gästehaus errichten, das „Haus Cohen“, welches sie dann betrieben. Mit „Friedchen“ Gude, dem ehemaligen Kindermädchen, blieb die Familie in Kontakt.
Elsbeth arbeitete zunächst in einem Nahariya benachbarten landwirtschaftlichen Betrieb; später lernte sie dann Kerammalerin und arbeitete in einer Keramikfabrik in Tel Aviv. Dort lernte sie ihren ersten Ehemann kennen, dessen Namen sie annahm: Silberschmidt. Nach dem frühen Tod ihres Mannes ging sie nach England zum Studium, kam aber im Jahre 1951 wieder nach Nahariya zurück, weil ihr Vater schwer erkrankt war. 1952 nahm sie ihr Kunststudium in England noch einmal auf, brach es aber nach dem Tod des Vaters 1954 endgültig ab und kehrte zur ihrer verwitweten Mutter zurück. Sie arbeitete wieder als Kerammalerin.
Ende der 1960er Jahre lernte sie Dr. Rudolf Goldstein (*1908) aus Berlin kennen, der auch nach Israel ausgewandert war und hier als Mediziner praktizierte. Die beiden heirateten und bauten sich ein Haus in Nahariya. 1967 gab ihre Mutter die Pension auf und zog um ins Haus von Tochter und Schwiegersohn. 1976 starb Grete Cohen. Hermann Gude, der Sohn des ehemaligen Kindermädchens, und seine Frau Maria Renate unterhielten mit Elsbeth und Rudolf eine gute Beziehung, was sich in gegenseitigen Besuchen und regelmäßigen Briefwechseln niederschlug. Ende 1979 gingen Elsbeth und Rudolf Goldstein in den Ruhestand, wobei Elsbeth nunmehr der Kerammalerei als Hobby zu Hause nachging. Im Jahre 1992 starb ihr Ehemann Rudolf in Nahariya.
Nach dem Tod von Rudolf hatte Elsbeths Kusine, Amely Weinberg, geb. Cohen, die – nachdem sie das KZ Bergen-Belsen überlebt hatte und wieder in den Niederlanden wohnte – Elsbeth eingeladen, zu ihr umzuziehen. Diesem Plan hatte Elsbeth auch zugestimmt, doch konnte sie ihn nicht mehr verwirklichen, weil sie Ende 1992 zwei Herzinfarkte kurz nacheinander ereilten.
Vor der Shoah hatte Amelys Mann Siegfried Weinberg zusammen mit ihrem Vater Siegmund Cohen eine Konservenfabrik in den Niederlanden aufgebaut.
Hans Bernhard Löwenstein (*1921 in Münster) war der Sohn des jüdischen Kaufmanns Moritz Löwenstein und seiner in den 1920er Jahren verstorbenen Ehefrau Else, geb. Gumprich. Moritz (*1881 in Horstmar) betrieb zusammen mit seinem Bruder Bernhard Löwenstein (*1895 in Horstmar), einen Rohproduktenhandel in Horstmar. 1936 wurde der Gesamtbesitz der Löwensteins in Horstmar zwangsversteigert. Moritz zog mit seinen Kindern Hans Bernhard und dessen Schwester Marianne (*1926 in Borghorst) nach Borghorst in das Elternhaus seiner verstorbenen Ehefrau. Den Rohproduktenhandel führte er mit seinem Bruder Bernhard, der auch nach Borghorst gezogen war, in einem rasch aufgebauten Lagerschuppen in Horstmar weiter.
Hans Bernhard besuchte zunächst die evangelische Volkssschule in Borghorst und von 1931 an das Gymnasium Arnoldinum, bis er 1936 „nicht versetzt“ die Schule verlassen musste. Am Tag nach dem Novemberpogrom wurden Vater Moritz und Onkel Bernhard zusammen mit anderen noch in Borghorst gebliebenen jüdischen Männern verhaftet. Moritz musste sein Haus räumen und wurde zu Erdarbeiten in der Bauernschaft Dumte zwangsverpflichtet.
Im März 1939 gab Moritz seinen fast 18-jährigen Sohn Hans Bernhard in die Obhut seines Bruders Bernhard und seines Schwagers Alfred Gumprich; die drei wollten versuchen, über die Grenze nach Belgien zu flüchten, um bei Martha Löwenstein, einer Schwester von Bernhard und Moritz, in Belgien Unterschlupf zu finden. An der Grenze wurden sie mangels gültiger Reisepapiere verhaftet und in das Internierungslager „Camps de Gurs“ am Westrand der Pyrenäen verbracht. Während Bernhard Löwenstein und Alfred Gumprich am 7. September 1942 in das KZ/Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden, wo sie wenig später ermordet worden sind, hat Hans Bernhard Löwenstein das Lager überlebt – wie, ist uns bislang unbekannt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat er sich nachweislich in Paris niedergelassen und eine Frau katholischen Bekenntnisses geheiratet, möglicherweise ein Zeichen dafür, dass er sich von der jüdischen Gemeinschaft distanziert hatte. 1955 war er noch einmal zu einem Kurzbesuch in Borghorst, wobei er berichtete, dass er in Paris ein Juweliergeschäft habe.
Ursula Wertheim (*1921) war die Tochter des jüdischen Fabrikanten Alfred Wertheim und seiner Frau Betty, geb. Lazarus. Sie besuchte die jüdische Volksschule in Burgsteinfurt und seit 1932 das Gymnasium Arnoldinum bis September 1935, als sie die Schule aus der Untertertia zu verlassen hatte. Von Oktober 1935 bis Mai 1936 besuchte sie das jüdische Kinder- und Landschulheim Caputh bei Potsdam, kehrte aber zunächst wieder nach Burgsteinfurt zurück. Ab Januar 1938 besuchte sie das Philanthropin, eine traditionsreiche jüdische Schule in Frankfurt. Irgendwann im Verlauf des Jahres 1938 wechselte Ursula von Frankfurt aus auf ein Schweizer Internat. Im Juni 1938 zogen ihre Eltern von Burgsteinfurt nach Münster; im August verkaufte Alfred Wertheim die Firma „M. C. Wertheim“ in Burgsteinfurt. Während des Novemberpogroms wurde die Münsteraner Wohnung geplündert. Am 31. Dezember 1938 siedelte die Familie in die Schweiz um. Sie setzte die Flucht am 4. Februar 1939 über Genua nach Tel Aviv in Palästina fort; dort beantragte sie am 1939 die palästinische Staatsbürgerschaft. 1940 heiratete Ursula in Tel Aviv den Journalistikstudenten Joe Eden, und am 14. November bekam sie ihren ersten Sohn, Ady Eden, der heute in Beer Sheva, Israel, lebt. Er berichtete uns, dass die Ehe seiner Eltern schon nach wenigen Jahren geschieden wurde. Er selbst sei in eine Pflegefamilie gekommen, sein Vater Joe sei nach Paris weggezogen, und seine Mutter hat sich der Familie von Dr. Paul Pinchas Lazarus, dem Onkel der Mutter, angeschlossen, der mit seiner Frau Jadwiga, geb. Walfisz, und ihren beiden Töchtern Channa und Chawa auch erst im Februar 1939 aus Deutschland nach Haifa geflohen war.
Ursulas Eltern sind zunächst in Tel Aviv geblieben. Ihr Vater Alfred ist nach 1946 noch einmal nach Burgsteinfurt gekommen, sozusagen als letzter Vorsteher der Synagogengemeinde, der er ja als Nachfolger seines 1934 gestorbenen Vaters Benjamin Wertheim war, um die Übergabe des Nachlasses der ehemaligen Synagogengemeinde an die jüdische Gemeinde von Münster zu regeln. Außerdem setzte er sich zusammen mit Hermann Michel (s. dort) für die Aufstellung des Gedenksteins auf dem Platz der ehemaligen Synagoge von Burgsteinfurt ein. Wenig später sind Alfred und Betty Wertheim nach New York ausgewandert. Anfang der 1950er Jahre ist Ursula dann ihren Eltern nach New York gefolgt. Dort lernte sie den Rechtsanwalt Myron J. Greene kennen, den sie 1955 in New York heiratete und mit dem sie 1956 ihren zweiten Sohn bekam: Charles M. Greene. Im Jahre 1958 besuchte Ady Eden seine Verwandten (Mutter Ursula, Bruder Charles M. sowie die Großeltern Wertheim und Greene) zum ersten Mal in New York. Bis heute halten die beiden Brüder einen engen Kontakt. Sein Bruder Charles M. Greene hat uns mitgeteilt, dass ihre Mutter Ursula Greene, gesch. Eden, geb. Wertheim, am 31. Dezember 1985 in den USA gestorben ist. Großvater Alfred sei 1968 in New York gestorben, Großmutter Betty im Jahre 1976.
Kurt Meyer (*1922) war der Sohn des Landwirts Julius und Berta Meyer, geb. Poppert. Sein Großvater war Isidor Meyer (s. dort). Sein zwei Jahre jüngerer Bruder war Heinz Meyer.
Kurt besuchte die jüdische Volksschule von Burgsteinfurt und von 1932 bis 1933 das Gymnasium Arnoldinum, musste aber schon 1933 die Schule verlassen; vermutlich hat er noch einen Schulabschluss an der jüdischen Volksschule bekommen. Über seinen Aufenthalt und seine Tätigkeit bis zum Jahre 1938 ist wenig bekannt; vermutlich hat er in der elterlichen Landwirtschaft geholfen.
Am 1. März 1939 ist sein Vater mit der ganzen Familie von Burgsteinfurt nach Chile ausgereist. In Santiago de Chile lernte Kurt später seine Ehefrau Ruth aus Berlin, ebenfalls eine Shoahflüchtige, kennen und gründete mit ihr eine Familie in Valdivia, wo auch sein Bruder Heinz mit seiner Familie lebte.
Im Jahre 1980 zog Kurt Meyer mit seiner Frau Ruth wieder in der Nähe von Santiago de Chile, um in der Nähe ihrer beiden Kinder und der Enkel zu wohnen. 1988 waren Kurt und Ruth Meyer zu einem Kurzbesuch in Burgsteinfurt.