Dokumentation Burgsteinfurt
Die Familie Felix Simons, An der Stadtmauer 7a
Felix Simons (* 6. Juli 1899 in Burgsteinfurt) besuchte die jüdische Volksschule in Burgsteinfurt und von Ostern 1908 bis Ostern 1910 das Gymnasium Arnoldinum, das er aus der Quinta verließ; vermutlich machte er anschließend an der jüdischen Volksschule seinen Abschluss. Ob er am Ersten Weltkrieg teilgenommen hat, ist ebenso wenig bekannt wie seine Berufsausbildung. Seit Anfang der 1920er Jahre lebte Felix in Hamm und betrieb mit seiner Frau Johanna, geb. Schulhaus (*1896), ein kleines Manufakturwarengeschäft.
Aus ihrer Ehe gingen drei Kinder, die alle in Hamm geboren wurden, hervor: Fritz (*1921), Rudolf, gen. „Rudi“ (*1927) und Hannelore (*1928).
Fritz machte nach dem Schulabschluss an der katholischen Volksschule in Hamm eine Elektrikerlehre, die er auch noch abschließen konnte, Rudi erreichte ebenfalls noch den Volksschulabschluss, aber Johanna musste am 10. November 1938 die katholische Volksschule ohne Schulabschluss verlassen – offenbar in vorauseilendem Gehorsam der Schulleitung gegenüber dem am 15. November 1938 in Kraft getretenen Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, wonach es
„[…] keinem deutschen Lehrer und keiner deutschen Lehrerin mehr zugemutet werden [kann], an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen […]. Vorbehaltlich weiterer Regelungen ordne ich daher mit sofortiger Wirkung an: […] Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet […]. Sofern es noch nicht geschehen sein sollte, sind alle eine deutsche Schule besuchenden Schüler und Schülerinnen sofort zu entlassen […].“
Am 11. November 1938 sind Felix Simons und sein Sohn Fritz in „Schutzhaft“ genommen worden; während Fritz wenige Tage später wieder frei kam, wurde sein Vater zeitweilig in das KZ Oranienburg-Sachsenhausen verschleppt. Sein in Burgsteinfurt gebliebener jüngerer Bruder Erich (*1901) hatte das elterliche Haus geerbt und sich nach der Reichspogromnacht dafür entschieden, mit seiner Familie Deutschland zu verlassen. Um die Ausreise und den Neuanfang in der neuen Heimat zu finanzieren, hatte er am 27. Juli 1939 das Elternhaus verkauft, mit dem Käufer aber noch Wohnrecht bis zum 1. April 1940 vereinbart. Felix hatte die Familie seines Bruders bis zum Hafen in Genua begleitet, von wo aus sie nach Santiago de Chile ausreiste. Er selbst war Ende Dezember 1939 – sozusagen das vereinbarte Wohnrecht im Elternhaus in Burgsteinfurt nutzend – mit seiner Familie nach Burgsteinfurt gezogen und hatte ebenfalls die Ausreise nach Chile geplant; geplantes Ausreisedatum war der 24. Januar 1940. Aber die Reise wurde offensichtlich nicht mehr angetreten, vielleicht weil der deutsche Geheimdienst mittlerweile auch bei den italienischen Behörden erreicht hatte, dass sie jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland die Ausreise über Genua untersagten. Am 5. Februar 1940 jedenfalls wurde die Familie in das „Judenhaus“ Steinstraße 9 umquartiert. Von Februar 1940 bis Dezember 1941 hat sich Fritz in Köln aufgehalten. Die Eltern wurden kurzzeitig verhaftet, weil bei einer Kontrolle festgestellt worden war, dass – wie es im Steinfurter Kreisblatt von 27. März 1940 heißt –
„[…] diese Juden […], die das ihnen großzügig gewährte Gastrecht gröblichst missbrauchten, Fleisch gekauft hatten, das von ‚schwarz‘ geschlachteten Tieren stammte […].“
Rudi Simons hielt sich nach diesem Vorfall noch bis November 1941 in Frankfurt auf. Möglicherweise hingen die relativ langen Aufenthalte von Fritz in Köln und Rudi in Frankfurt mit den Ausreiseplänen zusammen, die Vater Felix noch immer verfolgte. Sie wurden aber Ende des Jahres 1941 endgültig zerschlagen:
Am 11. Dezember 1941 wurde die Familie Felix Simons aus dem Haus Kautenstege 6, dem ehemaligen jüdischen Schulhaus, wo man ihr erneut „großzügig Gastrecht [gewährt]“ hatte, herausgeholt und mit der für Burgsteinfurt ersten Judendeportation, die über Münster nach Riga führte, abtransportiert. Dort kam die Familie zunächst in das Ghetto und wurde zu verschiedenen Zwangsarbeiten benutzt. Als im Zuge der Ghettoauflösung 1943 erneut Selektionen und Deportationen anstanden, geriet Vater Felix den anderen Familienmitgliedern für immer aus den Augen. Felix Simons ist nach Juli 1943 in Riga ermordet worden.
Nachdem die Rote Armee immer näher rückte und Riga von der SS ganz aufgegeben wurde, trieben die SS-Mannschaften die verbliebenen Häftlinge von Riga bis an die Ostseeküste; von dort wurden sie mit Kähnen bis zum KZ Stutthof verbracht, wo die Brüder Fritz und Rudi von ihrer Mutter und Schwester getrennt wurden. Fritz Simons und Rudolf Simons sind wenig später 1943 im KZ Stutthof ermordet worden.
Als im Winter 1944/45 im Lager Stutthof Flecktyphus ausgebrochen war, an dem auch Hannelore erkrankte, „selektierte“ die SS erneut, aber Johanna und auch Hannelore überlebten. Mit anderen überlebenden Häftlingen wurden sie bis nach Putzig getrieben, wo Frauen und Kinder über Nacht in einen Flugzeughangar eingesperrt wurden; Hitlerjungen hatten den Befehl bekommen, den Hangar anzuzünden. Als diese gesehen hatten, wer sich in dem Hangar befand, führten sie den Befehl nicht mehr aus. Die Eingeschlossenen wurden von den Soldaten der Roten Armee befreit und zu einer Erstversorgung in Krankenhäuser nach Warschau verbracht. Nach einer ersten Erholungsphase haben sich Johanna und Hannelore Simons auf den Weg über Berlin nach Hamm gemacht. Von dort sind sie auch noch einmal nach Burgsteinfurt gekommen, haben das Städtchen aber am 1. August 1947 wieder verlassen und sind in die USA ausgewandert, wo sie sich in San Diego angesiedelt haben. Hannelore heiratete dort den aus Hagen stammenden Helmut, gen. „Henry“ Marx, einen Shoah-Überlebenden aus Theresienstadt.