Dokumentation Burgsteinfurt
Die jüdische Bevölkerung Burgsteinfurts nach 1933: Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung
Mit der Machtergreifung der NSDAP am 30. Januar 1933 endete die Integrationsgeschichte der jüdischen Bevölkerung in Burgsteinfurt, und es begann für die jüdischen Bürger des Städtchens wie für die Juden in ganz Deutschland die Phase der Ausgliederung aus der „Volksgemeinschaft“ und der systematischen Entrechtung.
In Burgsteinfurt verlief diese Entwicklung besonders wahrnehmbar und zwar aus mehreren Gründen:
Burgsteinfurt war ein Ort mit einer durchaus bedeutenden jüdischen Gemeinde: 1933 hatte sie noch 109 Mitglieder; das waren knapp 2% der Bevölkerung gegenüber knapp 1% im Reichsdurchschnitt.
Jüdische Bürger waren wirtschaftlich und gesellschaftlich anerkannt und fühlten sich zugehörig. So hatte beispielsweise noch wenige Jahre zuvor der Fabrikant Philipp Marcus im „Steinfurter Kreisblatt“ einen Aufsatz über „sein schönes Heimatstädtchen“ veröffentlicht, dem er den Titel „Erinnerungen eines alten Burgsteinfurters“ gab.
Burgsteinfurt als protestantische Enklave im römisch-katholischen Altkreis Steinfurt und Münsterland hatte sich am Ende der Weimarer Republik anders positioniert als das Umland. Die Wahlergebnisse zeigen das: Bei der Reichstagswahl im März 1933 wurde in allen Orten des Kreises die katholische Zentrumspartei bei weitem die stärkste Kraft, nur in Burgsteinfurt war dies die NSDAP; sie erzielte im Kreisgebiet 22,5%, in Burgsteinfurt Stadt 29,9%, in den Burgsteinfurter Bauernschaften aber 76,8%. Der Sellener Bauernsohn Heinrich Göckenjan war schon seit 1932 Abgeordneter der NSDAP im Berliner Reichstag und wirkte für die Akzeptanz seiner Partei in seiner Heimat. Bei der eine Woche später stattfindenden Kreistagswahl erreichte die NSDAP durch zwei Kandidaten aus den Bauernschaften (Göckenjan und Meinikmann) hier 69,2% entgegen 22,2% im Kreisdurchschnitt. Diese Einzelheiten sind in der sehr lesenswerten „Hollicher Chronik“ von HENNINSEN (2003) dargestellt.
Die protestantischen Pfarrer Burgsteinfurts, insbesondere der sehr beliebte und engagierte Pastor Helmut Engel, waren überzeugte Mitglieder der „Glaubensgemeinschaft Deutsche Christen“ und unterstützten die „nationale Erneuerung“. In Teilen der Gemeinde, z.B. im „Evangelischen Männer- und Jünglingsverein“, stieß diese Politik auf offene Ohren (vgl. WORTMANN 2004, 89,100).
Der bereits 1931 gewählte Bürgermeister Burgsteinfurts Dr. Walter Schumann unterstützte die judenfeindliche Politik der NSDAP bereitwillig und leistete diensteifrig vorauseilenden Gehorsam bei ihrer Durchsetzung: So betrieb er beispielsweise den Ausschluss der jüdischen Viehhändler vom städtischen Viehmarkt schon 1933 und 1934. Das Badeverbot für „Nichtarier“ im städtischen Freibad, wurde von FELD (2009) ausführlich beschrieben.
Zug um Zug verschärfte sich die Isolierung und wirtschaftliche Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung. Nach den antisemitischen Boykottaktionen am 1. April 1933 wurden schon im April alle jüdischen Beamten aus dem Staatsdienst entlassen (so genannter „Arierparagraph“). Die im Jahre 1935 verabschiedeten so genannten „Nürnberger Gesetze“ entzogen allen Juden die Staatsbürgerrechte und legalisierten so ihre Entrechtung. 1936 wurde die „Rassentrennung“ in den Schulen vorgeschrieben und damit die Vertreibung der jüdischen Schüler aus den öffentlichen Schulen eingeleitet. FELD (2008b) und HERHAUS (2011) haben die Diffamierung der letzten jüdischen Schüler des Arnoldinums ausführlich und umfassend beschrieben.
Der Druck auf die jüdischen Geschäftsinhaber und Unternehmer wuchs, ihre Betriebe „arisieren“ zu lassen und deutlich unter Wert zu verkaufen. In mehreren Fällen wurden jüdische Kleinunternehmer auch gezielt kriminalisiert, indem man sie mit Gerichtsverfahren überzog und inhaftierte. Die Devisenbestimmungen enteigneten praktisch die bisherigen Besitzer. Ende 1938 gab es keinen jüdischen Betrieb mehr in Burgsteinfurt.
Mit der Pogromnacht am 9. November 1938 ging die Verfolgung auch in Burgsteinfurt in offene Gewalt über: In der Nacht vom 9. zum 10. November wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen in der Innenstadt geplündert, kurz nach zwei Uhr morgens die Synagoge demoliert und geplündert, anschließend die unmittelbar daneben stehende jüdische Volksschule. Anschließend wurden mehrere „Judenhäuser“ von der marodierenden Menge heimgesucht; in der Frühe des 10. Novembers wurde das Haus von August Herz (nach damaliger Diktion „Geltungsjude“), der mit der Burgsteinfurter Charlotte Kappesser verheiratet war und mit ihr den Sohn Robert (nach damaliger Diktion „Halbjude“) hatte, beschossen. August Herz und sechs weitere jüdische Männer wurden verhaftet und ins Burgsteinfurter Gefängnis gesteckt; am Nachmittag des 10. Novembers schließlich wurde die Synagoge unter Beteiligung eines Teils der Burgsteinfurter Bürger niedergebrannt. Am Abend des 10. November wurde das eben erwähnte Haus der Familie Herz angezündet; der Brand wurde von der Burgsteinfurter Feuerwehr noch in der Nacht gelöscht; am frühen Nachmittag des darauf folgenden Tages wurde die Brandruine noch einmal von Schülern des Gymnasium Arnoldinum unter der Führung des Studienrates und SS-Oberscharführers Dr. Günther Flume heimgesucht.
Nach den erschreckenden Erfahrungen dieser Tage suchten die noch im Ort verbliebenen jüdischen Familien alle Möglichkeiten einer Auswanderung. Vielfach fanden die Jüngeren mit ihren Kindern einen Fluchtweg, aber die Älteren blieben, sei es, weil sie das Geld für eine Ausreise nach Übersee nicht aufbringen konnten, sei es, weil sie kein Aufnahmeland mehr fanden, sei es, weil sie zu alt waren, um noch „verpflanzt“ zu werden. In den verzweifelten Familien spielten sich Tragödien ab.
Einige wählten den Ausweg in die Niederlande, der sich aber nach dem Einfall der deutschen Armee 1940 als Sackgasse erwies: Ab 1941 wurden die geflüchteten Juden verfolgt, im Sammellager Camp Westerbork konzentriert und von dort in die Vernichtungslager im Osten deportiert. Den Zurückgebliebenen in Burgsteinfurt wurde das Leben immer unerträglicher gemacht, ihren Lebensunterhalt durften sie nicht mehr verdienen, jeder Kontakt mit den nicht-jüdischen Bewohnern war illegal – für beide Seiten. Ab 1940 vertrieb man die 31 noch in der Stadt lebenden Juden aus ihren Wohnungen und konzentrierte sie in einigen wenigen so genannten „Judenhäusern“.
Ab Ende 1941 sind die bis dahin noch in Burgsteinfurt wohnenden 31 jüdischen Menschen deportiert worden: 18 Personen am 10. und 11. Dezember 1941 über Münster in die Lager von Riga. Riga bedeutete für die Mehrzahl der dorthin deportierten Juden den sicheren Tod. Weitere 6 Personen wurden am 24. Januar 1942 über Dortmund ebenfalls nach Riga transportiert und am 27. Juli 1942 die letzten 7 Personen über Münster in das KZ Theresienstadt. Unter diesen sieben waren der 80-jährige Isidor Meyer, der 85-jährige Selig Wertheim und der über 70-jährige Hermann Emanuel. Etwa die Hälfte der Deportierten waren ansässige Burgsteinfurter, denen die Flucht entweder nicht mehr gelungen war oder die bleiben wollten – bis zum Ende. Die anderen waren erst gegen Ende der 1930er oder gar Anfang der 1940er Jahre nach Burgsteinfurt gekommen, teilweise wohl deshalb, weil man ihre Herkunftsorte schon „judenfrei“ gemacht hatte. Drei der von Burgsteinfurt aus Deportierten überlebten die KZ-Haft und sind für kurze Zeit nach Burgsteinfurt zurückgekehrt. Das waren Hermann Michel und Johanna Simons mit ihrer Tochter Hannelore. Die Namen der 31 Deportierten sind auf zwei Steinplatten auf dem Platz der ehemaligen Synagoge von Burgsteinfurt verzeichnet: Mit der letzten Deportation am 27. Juli 1942 hörte die jüdische Gemeinde von Burgsteinfurt auf zu existieren.