Dokumentation Lengerich

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Familie Albersheim

Lina Albersheim, undatiert, Slg. Albersheim,

Lina Albersheim, undatiert, Slg. Albersheim, restauriert mit photorestore.io

Das Ehepaar Salomon (*8.8.1861) und Lina Albersheim, geb. Frank (*11.4.1881 in Weseke) hatte zwei Söhne: Eugen (*22.3.1918) und Otto (*27.2.1920).

Die Familie betrieb an der Adresse Altstadt 24, mitten in Lengerich auf der Nordseite des Römers, ein Textilgeschäft bzw. eine Manufakturwarenhandlung1)Oberfinanzdirektion Münster Devisenstelle Nr. 87. Das Fachwerkhaus wurde als Wohnraum und Geschäftsstelle verwendet. Neben einem Verkaufsraum mit Schaufenstern zum Rathausplatz gab es dort auch Büro- und Lagerräume2)Oberfinanzdirektion Münster Devisenstelle Nr. 92.

Otto Albersheim, undatiert Slg. Eugen Albersheim

Otto Albersheim, undatiert Slg. Eugen Albersheim

Ab 1933 „hat sich […] der Boykott gegen die jüdischen Geschäfte derartig verschärft, dass keine Kunden mehr in die jüdischen Läden kommen“3)Kreis Tecklenburg Landratsamt Nr. 917.

Eugen musste 16-jährig seine Schullaufbahn gezwungenermaßen mit der mittleren Reife abbrechen und statt eines Studiums, dass wegen der Judenquote an den Universitäten nicht möglich war,4)Friedländer, S. „Das Dritte Reich und die Juden“ S. 43 f. eine kaufmännische Ausbildung beginnen (1934).

Am 21. August 1934 verstarb der Vater Salomon an einem Herzanfall5)Regierung Münster Wiedergutmachungen Nr. 4649.
Otto konnte seine Ausbildung in der Osnabrücker Firma Flatauer und Co. als Kaufmann nicht beenden, da die Firma zwangsweise in „arische“ Hände übergeben wurde. Seitdem arbeitete er als Elektrovolontär6)Regierung Münster Wiedergutmachungen Nr. 4650.
Doch damit waren die antisemitischen Ausgrenzungen gegen die Familie noch nicht vorbei.

Das Novemberpogrom

Haus Albersheim vor 1938, Slg. Kiepker

Haus Albersheim vor 1938, Slg. Kiepker

Am 10. November 1938 wurde das Haus der Familie von der Bevölkerung, angeleitet durch den „Nazi-Bürgermeister“, geplündert und in Brand gesetzt. Es brannte bis auf die Grundmauern nieder. Die in unmittelbarer Nähe befindliche Feuerwehr griff nicht ein und schützte ausschließlich die angrenzenden Gebäude7)Regierung Münster Wiedergutmachungen Nr. 4649.

Eugen wurde in sog. „Schutzhaft“ genommen und im örtlichen Gefängnis festgehalten. Otto, der in Essen als Elektriker arbeitete, wurde in das Lager Dachau deportiert; Lina wurde in der Bahnhofstraße 17, dem „Judenhaus“, zwangseinquartiert.

Nach zwei Wochen kam Eugen aus der Haft frei, denn er sollte die Papiere für den Verkauf des Grundstücks unterschreiben – die Nazis wollten die Besitzübernahme nach außen hin legal erscheinen lassen. Aus diesem Grund kam auch Otto nach vier Wochen aus Dachau frei8)Interview mit Eugene Albersheim am 19.8.1996 in Winnipeg, Manitoba, Kanada im Rahmen des Steven ...weiter lesen.

Die Familie lebte bis Ende 1938 im Lengericher „Judenhaus“. Jeglicher Perspektive am Heimatort beraubt, zogen sie nach Herford. In der Credenstraße 35 lebten sie zusammen mit Lina’s Schwester Ida Frank aus Weseke, Mitte 1939 kam auch die 12-jährige Nichte Hannelore Frank dazu, die dort eine notdürftig eingerichtete Schule für jüdische Kinder besuchte9)Carolyn DuClos, Suit­case Full of Cookies, 2023, Xlibris 844-714-8691, ISBN: EBook ...weiter lesen
Ende 1939 konnte Eugen nach Großbritannien fliehen s.u..

Die Deportation

Noch drei Tage vor ihrer Deportation ins Warschauer Ghetto schrieben Otto und Lina an die befreundete Familie Hinnah aus Lengerich einen Brief (->Link).
Am 30.3.1942 wurden Lina und Otto in ein Sammellager nach Bielefeld verbracht und einen Tag später ins Warschauer Ghetto deportiert.

Lina kam vermutlich im Zuge der „Aktion Reinhardt“ – der systematischen Ermordung Menschen jüdischen Glaubens in Polen zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 – in einem der Konzentrationslager Belzec, Sobibor oder Treblinka ums Leben. Der 30.9.1943 wurde zu ihrem Todesdatum erklärt.

Auch Ottos Weg nach dem Warschauer Ghetto ist ungeklärt. Sein überlebender Bruder Eugen vermutet als Todesort das KZ Lublin (Majdanek)10)ebd. Interview Eugen Albersheim. Andere Quellen (Gedenkbuch Bundesarchiv) geben das KZ Buchenwald an. Am 31.12.1945 wurde Otto Albersheim für tot erklärt.
Briefe von Otto und Verwandten aus dem Warschauer Ghetto sind im Herforder Kommunalarchiv dokumentiert11)KAH, Hist. Slg. Q 63.

Eugens Flucht und zweites Leben

Unmittelbar nach Novemberpogromen führte die britische Regierung Rettungsaktionen für jüdische Kinder aus dem Deutschen Reich durch. Die erste dieser Rettungsaktionen ist bekannt als „Kindertransport“. Die zweite Rettungsaktion, die weniger bekannt und dokumentiert ist, betraf etwa 4.000 erwachsene Männer, von denen viele im November 1938 verhaftet und/oder in Konzentrationslagern inhaftiert worden waren.
Eugen konnte mit dieser zweiten Aktion nach England fliehen und wurde am 13. Oktober 1939 im Kitchener Camp, Richborough Sandwich, Kent registriert. Bei Kriegsausbruch wurden die vorwiegend jungen Männer als „enemy aliens“ geführt und in ein Camp auf der Isle of Man verlagert.

1940 konnte er nach Kanada ausreisen. Auf der „SS Ettrick” gelangte er über Québec nach Winnipeg (Manitoba, Kanada). Zwei Jahre musste er noch in Kanada in einem Lager als „Prisoner of War“ leben und arbeiten.

Selma und Eugene Albersheim 1996, Slg Albersheim

Selma und Eugene Albersheim 1996, Slg. Albersheim

1942 bekam er bei einer befreundeten Familie einen Job als landwirtschaftlicher Helfer; 1943 wechselte er zu einer Kleiderfabrik, wo er schließlich eine Abteilung leitete.
1947 heiratete er Selma, geb. Gumprich (*1928 in Kaiserswerth). Das Ehepaar bekam zwei Töchter: Leah (lebte 1996 in Minneapolis) und Susan (wohnte 1996 in Vancouver); beide Töchter studierten erfolgreich und haben jeweils zwei Kinder.
1953 gründete er in Winnipeg seine eigene Firma: ein gutgehendes Geschäft mit Sportmode.
Er engagierte sich u.a. im „The Saul and Claribel Simkin Centre“.12)ebd. Interview Eugen Albersheim.

Nach dem Krieg besuchte Eugene Albersheim Lengerich einmal. Er kam wegen des Grabes seines Vaters auf dem jüdischen Friedhof und wollte Menschen besuchen, die der Familie Albersheim im November 1938 geholfen hatten.
Als er allerdings neben dem Römer das „Chaos“ sah (der Keller des abgebrannten Hauses wurde als öffentlicher Abort benutzt), beschloss er seine zeitnahe Abreise und nie wieder an diesen Ort zurückzukehren. Andere Orte in Deutschland hat er später sehr wohl besucht.

Keller des abgebrannten Hauses Alberheim wird zum öffentlichen Abort

Keller des abgebrannten Hauses Alberheim wird zum öffentlichen Abort
Tecklenburger Landbote v. 21. Januar 1939

Erst mit 79 Jahren (1997) ging Eugen Albersheim in den Ruhestand. Er verbrachte die letzten fünf Jahre seines Lebens von 2003 bis 2008 im Simkin Center, einer Seniorenresidenz in Winnipeg. Er starb am 30. Dezember 2008 im Alter von neunzig Jahren.

2007 wurden für Lina und Otto Albersheim Stolpersteine am Platz des ehemaligen Wohnhauses verlegt, 2024 am selben Platz ein Stolperstein in Erinnerung an Eugen Albersheim.

Fußnoten   [ + ]

1. Oberfinanzdirektion Münster Devisenstelle Nr. 87
2. Oberfinanzdirektion Münster Devisenstelle Nr. 92
3. Kreis Tecklenburg Landratsamt Nr. 917
4. Friedländer, S. „Das Dritte Reich und die Juden“ S. 43 f.
5, 7. Regierung Münster Wiedergutmachungen Nr. 4649
6. Regierung Münster Wiedergutmachungen Nr. 4650
8. Interview mit Eugene Albersheim am 19.8.1996 in Winnipeg, Manitoba, Kanada im Rahmen des Steven Spielberg Projektes „Survivors of the Shoah Visual History Foundation“
9. Carolyn DuClos, Suit­case Full of Cookies, 2023, Xlibris 844-714-8691, ISBN: EBook 979-8-3694-0495-9
10, 12. ebd. Interview Eugen Albersheim
11. KAH, Hist. Slg. Q 63