Jüdischer Friedhof Lengerich

Wer in Lengerich den jüdischen Friedhof sucht, wird in der Innenstadt nicht fündig. Anders als der evangelische Zentralfriedhof, der sich in Sichtweite der zentral gelegenen Stadtkirche befindet, liegt der jüdische Friedhof am Rande der Stadt, beinahe versteckt am Ende des Finkenweges.

Jüdischer Friedhof Lengerich

Jüdischer Friedhof Lengerich, © Bernd Hammerschmidt

Betritt man den Friedhof, der in einem lichten Buchenwald liegt, bemerkt man sofort gravierende Unterschiede zu einem herkömmlichen Friedhof. Auf einer 2.550 Quadratmeter großen Rasenfläche befinden sich 103 Grabsteine unterschiedlicher Größe, die teilweise rein hebräische Inschriften tragen, während andere auch deutsche Texte enthalten.

Eine klare Anordnung der Grabsteine ist auf den ersten Blick schwer erkennbar; häufig sind Mitglieder einer Familie nebeneinander beigesetzt. „Die Ausrichtung [der Gräber, Anmerkung des Autors] nach Osten oder auch nach Südosten oder Süden, in Richtung Jerusalem, ist üblich und vorherrschend, aber keineswegs bindend“, wird dieses Merkmal im Buch „Haus des Lebens, Jüdische Friedhöfe in Deutschland“1)Michael Brocke, Christiane E. Müller: Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland, ...weiter lesen erklärt. Der Zustand des Friedhofs ist vor allem durch den jüdischen Glauben erklärbar, denn dieser begreift Friedhöfe, so heißt es in dem Buch weiter, als „Haus der Ewigkeit“ oder auch als „Haus des Lebens“; daraus folgt, dass Friedhöfe nicht verändert oder gar aufgelassen werden dürfen, denn die Toten warten auf ihre Auferstehung.

Die Geschichte des jüdischen Friedhofs in Lengerich reicht zurück bis ins 18. Jahrhundert. Im Jahre 1780 verzeichnete der Geometer Friemel, also ein Vermessungsingenieur im heutigen Sprachgebrauch, den ‚Juden-Friedhof‘; zudem stammen einige der ältesten Grabsteine aus dieser Zeit. „Seit 1867 war als Eigentümer für den jüdischen Friedhof Am Berg die ‚Judenschaft zu Lengerich‘ eingetragen.“ 2)Gertrud Althoff, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, ...weiter lesen Elf Jahre später kam es auf dem Friedhof zu einer massiven Schändung, denn Grabsteine wurden umgeworfen und Inschriften beschädigt. Angesichts der Perspektive, dass die jüdische Gemeinde vor Ort nicht sehr stark wachsen würde, verkaufte man 1895 an die Stadt Lengerich 87 qm der Friedhofsfläche.

Im Zuge der Pogrome am 9. und 10. November 1938 wurde der Lengericher Friedhof wiederum geschändet. Erst nach einer Anordnung der britischen Militärregierung wurde der Friedhof – wie die Neue Westfälische Zeitung, berichtete – von ehemaligen SA-Angehörigen im Jahre 1946 wieder instand gesetzt. In den folgenden Jahren gab es wiederholt Auseinandersetzungen zwischen der Stadtverwaltung Lengerich auf der einen Seite und dem Regierungspräsidium Münster und der Jewish Trust Organisation auf der anderen Seite hinsichtlich der Zuständigkeit bei der Instandhaltung des verwaisten Friedhofs, die erst Ende der 1950er Jahre beendet wurden. Auch der Eintrag des 2.550 qm großen jüdischen Friedhofs in die Denkmalliste der Stadt Lengerich erfolgte erst mit Verzögerung im Jahre 1994. Sieben Jahre später führte die Firma Hellbrügge, Ascheberg, in Absprache mit der Stadt eine Reihe von steinkonservatorischen Maßnahmen auf dem jüdischen Friedhof durch.

Text und Foto: Bernd Hammerschmidt


Gräber von Zwangsarbeiter*innen und Kindern auf dem Jüdischen Friedhof

Am östlichen Rand des Jüdischen Friedhofs finden wir ein kleines Gräberfeld mit 11 teils nicht mehr entzifferbaren Grabsteinen. Sie erinnern an russische und polnische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, aber auch Kindern von solchen.

Gräber von Zwangsarbeiter*innen und Kindern auf dem jüdischen Friedhof

Gräber Zwangsarbeiter*innen und Kindern auf dem jüdischen Friedhof, © Stadtverwaltung Lengerich

 

Die Bestattungen fanden laut Sterbedaten zwischen 1940 und 1945 statt. Namen, Lager/Ort und Todesursachen, soweit bekannt:

  1. Alexei Lubenez *25.03.1912 †26.11.1945
    (Provinzal-Heilanstalt Lengerich: Todesursache Schizophrenie)
  2. Irena Bestrowa *20.04.1862 †13.03.1945
    (Reichsbahn-Ausbesserungswerk) bei Bombenangriff auf Hohne
  3. Alexander Jurtschenko *16.02.1925 †19.04.1944
    (Außenlager A1 Außenlager KZ Tunnel) nach Fluchtversuch erhängt
  4. Anatoly Petrow *12.09.1943 †17.2.1944
    (Lager Oppermann) Kind
  5. Michael Pawelczyk *10.09.1897 †13.07.1945
    (Settel 9, heute: Aldruper Damm 169)
  6. Stanislaw Kolasa †26.11.1945
    (aus Greven) „Lähmung der linken Körperhälfte nach Durchschuss“
  7. Walerie Lemejsch *15.08.1943 †25.12.1943
    (Wechte 54, heute: Kirchhofs Rott 16) Kind, „tot aufgefunden“
  8. Wera Skripnik *19.12.1926 †21.04.1944
    (Lager Oppermann) Autounfall
  9. Walentina Bews *06.02.1944 †16.3.1944
    (Lager Oppermann) Kind
  10. Stanislaw Swiderski *23.01.1911 †0.12.1940
    (Wechte 19, heute: Am Steinhügelgrab 26) Suizid
  11. Maria Kartochin *15.10.1943 †02.03.1944
    (Lager Oppermann) Kind

Die Schicksale der Toten sind heute größtenteils nachzuvollziehen in den → Arolsen Archiven

Text: Klaus Adam

Fußnoten   [ + ]

1. Michael Brocke, Christiane E. Müller: Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland, Leipzig 2001
2. Gertrud Althoff, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, S. 465, Hrsg. Susanne Freund, Franz-Josef Jakobi, Peter Johanek, Münster 2008, Link → Historische Kommission für Westfalen