Dokumentation Burgsteinfurt

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Dokumentation

Familie Hermann Emanuel sowie Selma Neheimer, Kautenstege 10

Hermann Emanuel wurde 1869 in Gemünden als eins von 7 Kindern in eine arme, sehr fromme Familie geboren. Nachdem beide Eltern früh gestorben waren, kam Hermann in ein jüdisches Waisenhaus nach Paderborn, wo er fast 9 Jahre blieb. Das Ziel der Waisenhausleiterin war, die Kinder „… zu guten und nützlichen deutschen Staatsbürgern zu erziehen, sie gleichzeitig aber auch zu frommen, gesetzestreuen Juden zu formen.“ (FELD 2004, 218). Dieses Ziel und viele der strengen Regeln und Vorschriften übernahm Hermann später für seine eigenen Erziehungsmethoden, ebenso wie die traditionelle Frömmigkeit und den deutschen Patriotismus, der während seiner Seminarausbildung zum Kantor und Lehrer vermittelt wurde. Schon 1893 bewarb er sich um die Anstellung an einer der ältesten öffentlichen jüdischen Schulen in Burgsteinfurt – die meisten jüdischen Schulen waren privat –, wo er bis zu seiner vorzeitigen zur Ruhesetzung 1932 blieb. Sein Gehalt betrug 1200 Mark plus 250 Mark für die Tätigkeit als Kantor in der Synagoge.

Die damalige recht große jüdische Gemeinde umfasste 220 Mitglieder und konnte mit einem neuen Friedhof, einem neuen Schulgebäude, der Renovierung der 130 Jahre alten Synagoge und einem wohltätigen jüdischen Frauenverein aufwarten. Die Schule hatte 40 Schüler und Schülerinnen, die vor- und nachmittags von Hermann unterrichtet wurden. Außerdem richtete er eine kleine Schülerbücherei ein und liberalisierte – trotz seiner sehr konservativen Einstellung – einige tradierte jüdische Gebräuche (neues Gebetbuch, Gründung eines Synagogenchores, Anschaffung eines Harmoniums statt einer Orgel für Gottesdienste). Damit erwarb er sich schon bald die Wertschätzung seiner Gemeinde.

Obwohl in den 1890er Jahren antisemitische Aktionen und Äußerungen stark zunahmen, strebte Hermann weiterhin nach guten Kontakten zu den beiden anderen christlichen Konfessionen und den städtischen Institutionen. Insbesondere beteiligte er sich an den Festlichkeiten anlässlich des 100. Geburtstags von Kaiser Wilhelm I. mit einem Festgottesdienst und einer patriotischen Predigt sowie mit Schulfeiern. In der Folgezeit gewann er viel Lob und Anerkennung durch Schüleraufführungen zu wohltätigen Zwecken, die zusammen mit katholischen und evangelischen Vereinen durchgeführt wurden. Schon dabei wie auch später setzte er sich immer wieder für Frieden und Toleranz zwischen den Konfessionen ein.

1906 heiratete Hermann mit 36 Jahren die 18-jährige Henny Heymann, eine ehemalige Schülerin und Tochter des Textilkaufmanns und Erfinders Herz Heymann, der ein Geschäft auf der Steinstraße hatte. Sie unterstützte ihren Mann bei seinen zunehmenden beruflichen Verpflichtungen und übernahm auch Aufgaben innerhalb der jüdischen Gemeinde. 1908 gründete Hermann im Auftrag der Stadt die „Kaufmännische Fortbildungsschule“, Vorläufer der heutigen Wirtschaftsschulen. Erster Schulort wird das Alte Rathaus von Burgsteinfurt, wo er mit wenigen Schülern startet. Er leitete die Schule bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung 1931. Der damalige Bürgermeister Schumann bescheinigt ihm „wertvolle Pionierdienste, die Sie der kaufmännischen Schule, der Jugend, der Wirtschaft und der Bürgerschaft vom Burgsteinfurt geleistet haben“. Weil er darüber hinaus auch jugendpflegerische Aufgaben übernahm, machte sich seine Überlastung durch gesundheitliche Probleme und übermäßige Strenge gegen seine Schüler bemerkbar, verstärkt durch die zunehmende Militarisierung und Nationalisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens.

Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 beteiligte Hermann sich aktiv an der Mobilisierung durch Aufrufe zur Kriegsteilnahme in beiden Schulen und in der Synagoge. Nach Abflauen der ersten Kriegseuphorie wandte er sich mehr seelsorgerischen Tätigkeiten in der Gemeinde und in Gefangenenlagern der Umgebung zu, für die er sogar das „Verdienstkreuz für Kriegsteilnahme“ erhielt. Auch durch die Teilnahme an Sammlungen mit Schülern und Lehrlingen und Vorträge im Lazarett bewies er seine patriotische Gesinnung. Im Januar 1918 fand eine Jubiläumsfeier statt aus Anlass des 25-jährigen Jahrestages von Hermanns Anstellung als Lehrer und Kantor in Burgsteinfurt, die zeigte, welche Anerkennung Hermann inzwischen in Gemeinde und Bürgerschaft genoss.

Ende 1918 war der Krieg verloren, der Kaiser nach Holland geflüchtet, die neue demokratische Regierung noch nicht überall akzeptiert, die Arbeitslosigkeit hoch und eine allgemeine Resignation die Folge. Wegen des ständig zunehmenden Antisemitismus und der Inflationsfolgen drohte 1922 die Schließung der jüdischen Schule, die aber abgewehrt werden konnte. Durch die Gründung einer NSDAP-Ortsgruppe 1925 und die Weltwirtschaftskrise 1929 verstärkten sich die gegen jüdische Mitbürger gerichteten Aktionen. Im Zusammenhang mit den Brüningschen Notverordnungen wurde Hermann 1932 – ein Jahr vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten – vorzeitig in den Ruhestand versetzt und konnte von da ab nur noch als Privatlehrer an der inzwischen nicht mehr staatlichen jüdischen Schule unterrichten.

Zunehmend wurden Hermann in den kommenden Jahren die Rechte genommen. Er wurde aus seinen öffentlichen Stellungen verdrängt und verlor nach und nach seine Familie: Die Töchter Ruth und Renata flohen nach Palästina, seine Frau Henny starb 1937 an Leberkrebs. Er weigerte sich, seinen Töchtern nach Palästina zu folgen, musste die Schrecken und Demütigungen der „Pogromnacht“ 1938 ertragen und sah seine Gemeinde auf nur noch 31 Personen zusammengeschrumpft. Seine Haushälterin Selma Neheimer wurde bereits 1941 nach Riga deportiert und 1944 ermordet. Schließlich wurde auch er, wie so viele vor ihm, im Juli 1942 im hohen Alter von 72 Jahren nach Theresienstadt verschleppt und dort im November ermordet.

Henny Emanuel, geb. Heymann, (*1887) war die Tochter des Kaufmanns Herz Heymann. 1906 heiratete sie ihren ehemaligen Lehrer, den sehr viel älteren Kantor Hermann Emanuel und bekam mit ihm die Töchter Ruth und Renata. Sie unterstützte ihren Mann bei seinen vielfältigen Aufgaben. Aufgrund ihres sozialen Engagements im Israelitischen Frauenverein und im Vaterländischen Frauenverein Burgsteinfurts war sie bei den Bürgern sehr angesehen und bekam sogar eine Medaille des Roten Kreuzes. In allen Berichten wird sie auch als sehr fürsorgliche Ehefrau und Mutter beschrieben. Ab 1918 wurde sie berufstätig, unterrichtete Handarbeit an der jüdischen Volksschule und trug so zum Familieneinkommen bei.

Mitte der dreißiger Jahre – schon zur Zeit der Repressalien gegen jüdische Bürger – erkrankte sie an Leberkrebs. Kurz vorher hatte sie sich mit Gedanken an eine Auswanderung beschäftigt, um ihren Töchtern zu folgen. Leider erlag sie aber 1937 mit erst 50 Jahren ihrem Krebsleiden im Katholischen Krankenhaus der Stadt und wurde in Burgsteinfurt beigesetzt.

Ruth Meir, geb. Emanuel (*1911) war die erste Tochter von Henny und Hermann Emanuel. Sie besuchte erst die höhere Töchterschule in Burgsteinfurt, dann das Gymnasium in Münster, sie war eine gute Schülerin. Ihr Vater Hermann war sehr stolz auf Ruth und wollte, dass sie später Rabbinerin würde. 1930 begann sie in Münster Staatswissenschaften und Jura zu studieren. Sie war eine sehr hübsche und gute Studentin, die für ihre Arbeiten sogar Auszeichnungen bekam.

Nach der Machtergreifung der Nazis sah sie keinen Sinn mehr im Studium. Über Frankreich setzte sie sich nach Palästina ab und arbeitete in der Landwirtschaft. Der Wechsel vom Leben als Akademikerin in einer Stadt zum Leben und Arbeiten auf einer Farm in einem Entwicklungsland fiel ihr sehr schwer.

Schließlich fand ihr Ehemann Dr. Albert Meir eine Stelle als Arzt im Jordantal, wo Ruth als Sekretärin des Kibbuz arbeitete. Nach einem langen Kampf gegen eine Krebserkrankung starb sie schon 1948. Sie wurde auf einem Friedhof des Kibbuz begraben.

Renata Bornstein, geb. Emanuel (*1913), besuchte wie ihre zwei Jahre ältere Schwester Ruth die Freie Mädchenschule in Burgsteinfurt und danach bis zum Abitur ein Gymnasium in Münster. Trotz ihrer guten Leistungen wurde sie oft von Mitschülern und Lehrern diskriminiert.

Seit ihrer Kindheit waren Pflanzen Renatas große Leidenschaft. Obwohl es Juden schon 1933 verboten war, mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu handeln, konnte sie nach dem Abitur durch die Vermittlung ihres Großvaters Herz Heymann eine Lehre bei dem berühmten Staudengärtner Karl Foerster in Potsdam machen.

1935 wurde sie wegen „Arbeitsmangels“ aber mit einem sehr guten Zeugnis und einem Empfehlungsschreiben ihres Lehrherren entlassen. Im folgenden Jahr emigrierte sie in die Niederlande, schloss dort eine Scheinehe und wanderte später nach Palästina aus.

Nach dem Tod ihrer Mutter kam Renata 1937 noch einmal kurz nach Burgsteinfurt, um das Grab der Verstorbenen zu besuchen. Ihr Vater Hermann Emanuel schrieb ihr noch kurz vor seiner Deportation einen Brief zur Geburt ihres Sohnes Reuven, seines Enkels. Ihm folgten noch zwei weitere Kinder, Jacob und Ruth. Ihr späteres, erfülltes Leben widmete Renata ganz dem Aufbau und der Leitung eines Kibbuz in Israel, wo sie mit 87 Jahren verstarb.

Selma Neheimer, geb. Munk, (*1897 in Tschechien) hatte einen Sohn. Im November 1937 kam sie nach Burgsteinfurt und trat nach dem Tod von Henny Emanuel die Stelle einer Haushälterin bei Hermann Emanuel an. Nach dem Pogrom am 9./10. November 1938 verschlimmerte sich die Lage der jüdischen Bürger so sehr, dass Hermann Emanuel für sich und Selma Neheimer die Genehmigung zur Ausreise nach Palästina beantragte. Als der Antrag schließlich bewilligt wurde, reiste Selma jedoch nicht mehr aus. Obwohl sie noch kurzfristig als Lehrkraft an Hermanns jüdischer Schule eingestellt wurde, entging sie ihrem Schicksal nicht. Im Dezember 1941 wurde sie von Burgsteinfurt nach Münster und von da ins Ghetto nach Riga deportiert. Nachdem sie 1944 ins Konzentrationslager Stutthoff kam, wurde sie dort vermutlich ermordet.